Wer in unseren beiden unmittelbaren Nachbarländern Polen oder Belgien zu Unrecht angeklagt wird, hat – vor allem wenn Aussage gegen Aussage steht – einen guten Grund, nicht gänzlich zu verzagen. Denn es steht ihm frei, sich einer physiopsychologischen Untersuchung mittels eines Polygraphen (kurz: einer polygraphischen Untersuchung) zu unterziehen. Die dortige Justiz wird ein entlastendes Ergebnis wie jedes andere Beweismittel behandeln, es kritisch prüfen und in einer Gesamtschau mit anderen be- oder entlastenden Beweismitteln würdigen. Wer sich in der gleichen Situation in Deutschland befindet, hat weniger Grund zur Zuversicht. Was polnischen oder belgischen Richtern erlaubt ist, versucht der 1. Strafsenat den deutschen Richtern an untergeordneten Gerichten hartnäckig zu verweigern, zuletzt mit seinem Beschluss vom 30.11.2010 (s. dazu meine Besprechung in ZJS 2011, 557 ff.)
Dabei wäre die Zulassung polygraphischer Untersuchungen ein Gewinn – für Verletzte, Beschuldigte, Strafverfolgungsorgane und die Justiz gleichermaßen. Es kommt gar nicht selten vor, das zeigen die Erfahrungen praktizierender Polygraphiesachverständiger, dass vor allem in Verfahren, in denen es um Sexualdelikte geht, Beschuldigte nach einem nicht bestandenen Test ein Geständnis ablegen. Ein geständiger Beschuldigter nützt vor allem dem Opfer, dem so möglicherweise eine Aussage und langwieriges Warten auf einen Schuldspruch erspart bleiben. Es ist im Übrigen aber auch nicht einzusehen, warum mutmaßliche Opferzeugen ihre Aussagen mithilfe eines psychologischen Gutachtens glaubhafter machen dürfen, wenn dies dem Beschuldigten mittels einer polygraphischen Untersuchung verwehrt wird, obwohl diese deutlich zuverlässiger ist.
Nun muss man kein Prophet sein, um zu erkennen, dass beim BGH der Wille, polygraphische Untersuchungen zuzulassen, nicht besonders ausgeprägt ist. Deshalb ist eine alsbaldige Positionsänderung des 1. Strafsenats eher nicht zu erwarten. Ob andere Strafsenate sich die Mühe machen, eine erneute Sachverständigenanhörung durchzuführen und die Sache nochmals zu durchdenken, ist ungewiss.
Nichtsdestoweniger sollten unschuldig Beschuldigte sich nicht davor scheuen, sich freiwillig einer polygraphischen Untersuchung zu unterziehen und das entlastende Ergebnis der Staatsanwaltschaft oder dem Gericht vorzulegen. Ungeachtet der vom Bundesgerichtshof behaupteten Ungeeignetheit des Beweismittels gibt es immer mehr Gerichte, die polygrafische Untersuchungen als Beweismethode anerkennen.
Insoweit hat das Amtsgerichts Bautzen Rechtsgeschichte geschrieben – sowohl das Familien- als auch das Schöffengericht. In einem Strafverfahren, dem eine Anklage wegen Vergewaltigung zugrunde lag, hat das Schöffengericht Bautzen den Angeklagten freigesprochen und sich dabei unter anderem auf das Ergebnis einer polygrafischen Untersuchung gestützt (Amtsgericht Bautzen [Schöffengericht], Urteil vom 26. März 2013, Az.: 40 Ls 330 Js 6351/12, BeckRS 2013, 08655).
In einer dem Strafverfahren vorangegangenen Familiensache, in der es um das elterliche Sorgerecht mit Blick auf das gemeinsame Kind ging, hatten sich – auf Initiative des Familienrichters – sowohl der spätere Angeklagte als auch die (einzige) Belastungszeugin freiwillig einer polygrafischen Untersuchung unterzogen, die von der zertifizierten Sachverständigen für Forensische Physiopsychologie, Diplom-Psychologin Gisela Klein (Rechtspsychologische Praxis, Bahnstraße 3, 50858 Köln, Telefon: 02234/432050), vorgenommen worden war. Die Testergebnisse des späteren Angeklagten ließen den Schluss zu, dass dieser die verdachtsbezogenen Fragen wahrheitsgemäß verneint hatte. Hingegen waren die Testergebnisse der Belastungszeugin nicht geeignet, den Verdacht zu entkräften, dass diese wahrheitswidrig ihren Ehemann belastet hatte. Das Familiengericht entschied daraufhin, die elterliche Sorge beim Vater des Kindes zu belassen, und stützte sich dabei unter anderem auf die Ergebnisse dieser polygrafischen Untersuchungen (AG Bautzen [Abteilung für Familiensachen], Beschluss vom 28. Januar 2013, Az.: 12 F 1032/12, BeckRS 2013, 16541).
Auch im Strafverfahren griff das Gericht auf diese Ergebnisse zurück und ließ deren Verwertung ausdrücklich zu. „Mit einem Polygrafen ergeben sich neue Möglichkeiten, in einem Strafprozess die Wahrheit zu finden“, sagte der Vorsitzende des Schöffengerichts, Dr. Dirk Hertle („Freispruch dank Lügendetektor“, Sächsische Zeitung vom 27.3.2013, Seite 6). Das Gericht betonte, dass polygrafische Untersuchungen zuverlässig seien. Damit steht die Entscheidung auch nicht im Widerspruch zur Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs. Dieser hatte eine Zulassung abhängig gemacht von der Zuverlässigkeit der physiopsychologischen Methode (BGH, Urteil vom 17. Dezember 1998, Az.: 1 StR 156/98, BGHSt 44, 308 ff.). Da das Amtsgericht nunmehr von der Validität überzeugt ist, war es folgerichtig, der polygrafischen Untersuchung einen indiziellen Beweiswert zuzusprechen.
Die Verwertbarkeit im Strafverfahren hat das Amtsgericht an folgende Voraussetzungen geknüpft: Erstens muss die Untersuchung in einem geordneten gerichtlichen oder staatsanwaltschaftlichen (Ermittlungs-)Verfahren nach erklärter Freiwilligkeit angeordnet worden sein. Zweitens muss der Test freiwillig unter Laborbedingungen mittels mindestens vier gemessenen Parametern (relative Blutdruckschwankungen, Atmung, elektrischer Hautwiderstand, vasomotorische Aktivität) stattfinden und von einem zertifizierten Sachverständigen durchgeführt werden. Als Sachverständige kommen damit nur Fachpsychologen für Rechtspsychologie in Betracht, die nachgewiesenermaßen mit der physiopsychologischen Methode vertraut sind und über eine spezielle Ausbildung verfügen zur fachgerechten Bedienung eines Polygrafen und der Interpretation seiner Aufzeichnungen. Drittens muss das Verfahren die Tatfrage betreffen und viertens darf das physiopsychologische Befundergebnis lediglich zur Entlastung des Angeklagten verwertet werden.
Inzwischen bröckelt die Front der höchstrichterlichen Rechtsprechung weiter. In einem Beschluss vom 14. Mai 2013 hat der 21. Familiensenat des OLG Dresden Folgendes entschieden: "Die Untersuchung mit einem Polygraphen ist im Sorge- und Umgangsrechtsverfahren ein geeignetes Mittel, einen Unschuldigen zu entlasten (...)" (Az.: 21 UF 787/12, BeckRS 2013, 16540). Der 20. Familiensenat des OLG Dresden hat dies mit Beschluss vom 5. Dezember 2013 bestätigt (Az.: 20 UF 877/13).
Literatur und Presseberichte zur Polygrafie
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Putzke, Holm / Scheinfeld, Jörg / Klein, Gisela / Undeutsch, Udo: Polygraphische Untersuchungen im Strafprozess. Neues zur faktischen Validität und normativen Zulässigkeit des vom Beschuldigten eingeführten Sachverständigenbeweises; in: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft (ZStW) 121 (2009), S. 607–644
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Putzke, Holm / Scheinfeld, Jörg: Entlastungsbeweis: polygraphische Untersuchung – Taktisches zur Beweismittelerhebung im Strafverfahren, in: Strafverteidiger Forum (StraFO) 2/2010, S. 58 ff.
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Putzke, Holm: Entscheidungsbesprechung zu BGH, Beschl. v. 30.11.2010, 1 StR 509/10 (Untersuchung mittels eines Polygraphen als ungeeignetes Beweismittel); in: Zeitschrift für das Juristische Studium (ZJS) 2011, S. 557–563
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Wahrheit und nichts als die Wahrheit?, Beitrag zu polygrafischen Untersuchungen (Lügendetektor), in: Exakt, Mitteldeutscher Rundfunk (MDR), www.mdr.de/exakt/video130358.html (ab Minute 8:46)
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„So wird eine gerichtliche Entscheidung nicht überzeugend“; Interview mit Prof. Dr. Holm Putzke zur Position des Bundesgerichtshofs zur polygrafischen Methode, in: Exakt (MDR), http://www.mdr.de/exakt/video130446.html
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Taugen Lügendetektoren als Beweismittel?; in: FAKT (Das Erste), 16.7.2013
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Putzke, Holm: Die Renaissance des „Lügendetektors“ in Straf- und Familiensachen, Anmerkung zu OLG Dresden Beschluss v. 14.5.2013, 21 UF 787/12 (BeckRS 2013, 16540), AG Bautzen, Beschluss v. 28.1.2013, 12 F 1032/12 (BeckRS 2013, 16541) und AG Bautzen, Urteil v. 26.3.2013, 40 Ls 330 Js 6351/12 (BeckRS 2013, 08655); in: NJW-aktuell 42/2013, S. 14
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Momsen, Carsten: Die Renaissance des Polygraphen? Wie effektiv lassen sich amerikanische Verteidigungsstrategien im deutschen Strafverfahren nutzen?, in: KriPoZ 2018, S. 142–151